Victoria Ernst

20. April 2021

Deutschland und der digitale Notstand

Mangelnde Medienkompetenz ist in Deutschland schon lange Thema. Die Coronakrise machte auf diesen Missstand, besonders an deutschen Schulen, deutlich aufmerksam.

„Unsere Kinder brauchen (mehr) Medienkompetenz“. So betitelte ein Kollege bereits vor 10 Jahren seinen Blog Beitrag. Heute erscheint dieses Thema relevanter als je zuvor. Das vergangene Jahr hat uns als Gesellschaft schmerzhaft aufgezeigt, wie weit wir beim Thema Digitalisierung von anderen Ländern abgehängt werden. Nicht nur der Umgang mit Medien, sondern der grundlegende Zugang zu diesen Medien, ist nach wie vor ein nicht gelöstes Problem.

Damals war der Artikel noch auf den allgemeinen kritischen und sorgsamen Umgang mit Medien aller Art bezogen. Mittlerweile hat sich ein weitaus gravierenderes Problem, vor allem an den Schulen, aufgetan, denn ein Tablet auf dem Schreibtisch macht noch keine Digitalisierung.

Im letzten Jahr war das Land gezwungen, enorme Entwicklungen im Umgang mit den "neuen" Medien nachzuholen. Der Begriff "neue Medien" ist heutzutage mit Vorsicht zu genießen, ist er doch sehr veraltet, da die sogenannten "neuen Medien" längst zu den wichtigsten der kontemporären Medien geworden sind.

Vor allem der Austausch über Endgeräte stellte sich quer durch die Gesellschaft als wichtigstes Instrument der Kommunikation des letzten Jahres heraus. Skype und Co wurden nicht nur für professionelle Meetings zwischen Kollegen oder dem Fernunterricht an Schulen genutzt, sondern auch die Nutzung im privaten Kreise, zur Kommunikation mit Freunden und Verwandten, nahm enorm zu.

Diese fast globale Umstellung auf eine Kommunikation über das Internet führte gesellschaftsweit in kürzester Zeit zu einer erzwungenen Medienkompetenz.

Digitale Medien an den deutschen Schulen

Als letztes Jahr der Unterricht in den Onlineraum verlegt wurde, stellten sich viele Fragen: Geht das überhaupt? Welche Lösungen könnte es für die unterschiedlichen Altersgruppen geben? Wie selbstständig können Kinder arbeiten? Wie effektiv ist der Fernunterricht? Und wie viele Kinder werden so den Anschluss verlieren?

Vor allem für die Jüngsten brachte diese Umstellung viele Hindernisse mit sich, da einerseits der digitale Unterricht notwendig und unvermeidbar war, er jedoch kein hinreichender Ersatz für das reale Treffen mit Freunden und Mitschülern ist. "Aus Kinderzimmern wurden Klassenzimmer; die Schule verlangt nach wie vor Leistungen – die Freizeit und Ausgleichsmöglichkeiten dazu sind jedoch drastisch eingeschränkt" (Quelle)

Der Stand vor Corona

Bereits im Jahr 2018 fand eine umfassende Studie der Bertelsmann Stiftung zum Stand der Digitalisierung an Deutschlands Schulen statt. Diese sagte aus, dass fast alle Schüler ab 11 Jahren täglich das Internet in ihrer Freizeit benutzen. Die Quote der Nutzung im Unterricht lag bei gerade mal 1 Prozent.

Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland, Vorreiter Europas in vielen anderen Bereichen, bemerkenswert schlecht ab, wenn es um die Digitalisierung an Schulen geht. Die Achtklässler deutscher Schulen liegen im europäischen Mittelfeld der Medienkompetenz. 30% der Schüler schneiden sogar noch schlechter ab, ihre Medienkompetenz ist auf rudimentäre Kenntnisse begrenzt. Beim Einsatz digitaler Medien im Unterricht ist Deutschland trauriges Schlusslicht. (Quelle)

Vor Corona gab es an der Mehrheit der Schulen keinen WLAN Zugang, die wenigsten Schulen hatten ein Medienkonzept. Die Nutzung digitaler Medien lag zumeist allein bei der Lehrkraft, eingebunden in Präsentationen, Office-Anwendungen oder Videos. Apps oder Programme für die Nutzung der Schüler kamen so gut wie nie zum Einsatz. Dabei ist gerade für jüngere Schüler der spielerische Umgang mit Lehrstoff durch Apps eine Hilfe zum Lernerfolg.

Eine Vielzahl der Schüler gab an, digitale Medien hauptsächlich selbstständig, und fernab des Unterrichts zu benutzen, beispielweise zur Bewältigung von Hausaufgaben. In ihrer Freizeit nutzen Schüler digitale Medien selbstständig, effizient und mit hoher Motivation. Die Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass digitale Medien Schüler auch zum selbstständigen, fast spielerischen Lernen motivieren. Diese Motivation auf den on- und offline Unterricht zu übertragen scheint die logische Schlussfolgerung zu sein.

Der Stand nach Corona

Als der erste Lockdown begann, stellte sich heraus, dass Medienkompetenz keine Option mehr war. Sie entwickelte sich zu einer Notwendigkeit und zur Kernkompetenz aller Lehrenden und Lernenden. Doch wie ist der Stand jetzt, nach einem Jahr Coronakrise? Ist die Digitalisierung an deutschen Schulen vorrangeschritten? Und – wird sie von Dauer sein?

2020 wurde ein stattliches Budget für die digitale Ausstattung der Schulen bewilligt. Bereits am Ende des Jahres wurden 488 Millionen Euro aus diesem Budget entnommen, unter anderem um Schüler mit digitalen Endgeräten auszustatten. Während einige Schüler und Lehrer die digitale Infrastruktur bemängelten, stellte das größte Problem jedoch das eLearning selber dar. Es fehlte die Einheitlichkeit der Lehrmethoden und der Bereitstellung des Lehrmaterials. Jede Schule agiert anders und sogar schulintern greifen oft unterschiedliche Lösungen. Darüber hinaus war der Andrang auf bereits bestehende Lehrplattformen so groß, dass es häufig zu Überlastungen der Systeme kam.

Während Kinder im Umgang mit digitalen Medien oft sicher sind, oder autodidaktisch Programme erlernen können, fehlt es den Lehrern häufig an Kompetenz und Kreativität, digitale Medien in ihren Unterricht mit einzubeziehen.

Doch wie digital ist der digitale Unterricht jetzt eigentlich?

Klassenzimmer wurden auf online Formate wie Zoom und Co verlegt. Jedoch geben 84% der Lehrer nach wie vor an, das Aufgabenblatt als häufigstes Format im Unterricht zu nutzen. Lediglich 14% der Lehrkräfte vermitteln ihren Unterrichtsstoff während Videokonferenzen, nur 39% benutzen digitale Quellen wie Videos im Unterricht (Quelle).

Eine erschreckende Erkenntnis, die zeigt, dass selbst die erzwungene Digitalisierung weiterhin auf Widerstand stößt. In vielen Fällen wurde lediglich die Bereitstellung der Unterrichtsmaterialien (i.e. Arbeitsblatt und Co.) online vorgenommen, die Bearbeitung scheint jedoch weiterhin so zu funktionieren wie auch vor Corona. Besonders erschreckend ist die geringe Anzahl an Lehrern, die ihre Klasse tatsächlich online mit Videokonferenzen unterrichten. Das bedeutet, dass viele Schüler bei der Bearbeitung der Lehrmaterialien auf sich selbst gestellt sind. Bereits bestehende Lerndefizite können so kaum ausgebessert werden. Es wird erwartet, dass viele Schüler durch die aktuelle Situation auf der Strecke bleiben werden und Klassen wiederholen müssen. Die soziale Ungleichheit in der Bildung ist markanter als je zuvor. 37% der Lehrer geben an lediglich mit der Hälfte oder nur sehr wenigen Schülern regelmäßig in Kontakt zu stehen. So wird nicht nur das Lernen den Schülern selber überlassen, auch die eigene Organisation muss von den Schülern übernommen werden, ein großes Problem für viele Altersklassen.
All diese Aspekte führen dazu, dass von Chancengleichheit an den einzelnen Schulen keine Rede sein kann.

Fazit

Ob die Coronakrise nun positive oder negative Auswirkungen auf einen dauerhaften Fortschritt der Digitalisierung hat, darüber sind sich Experten noch uneinig. Nach wie vor ist es schwierig, die Situation an deutschen Schulen während Corona einzuschätzen, eindeutig ist jedoch, dass sich der prekäre Notstand der Digitalisierung vor der Coronakrise jetzt schmerzlich auszahlt. Während die Pandemie die Schulen zwang die Digitalisierung voranzutreiben, bedeutet das nicht, dass dies auch weitgehend erfolgreich war. Bestenfalls kann wohl von einer Anpassung gesprochen werden, jedoch nicht von echtem Fortschritt. Regelmäßige Schulungen für Lehrende, ein weitgehender Ausbau der digitalen Infrastruktur und die kreative, zielführende Integration digitaler Medien im Unterricht sind nur einige der dringenden To-Dos für die kommenden Jahre, um Deutschland weltweit auch nur annährend konkurrenzfähig zu machen.